Dienstag, 7. Juli 2009

Lake Shore Drive


Graue Wolkenfetzen jagen über den Lake Michigan. Die Sonne geht unter, scheint seitwärts, beinahe diagonal strahlt sie gegen die Wolkenkratzer, die die Skyline bilden. Die Sonnenstrahlen nehmen die wunderlichsten Farben an, je nachdem auf welche Materie sie treffen. Die Wellen, vom eisigen Wind gepeitscht und geschlagen, schimmern in ihrer höchsten Erhebung Porzellanrosa. Ab und zu läßt sich ein Wasserfetzen dummerweise auf die betonierte Uferbegradigung werfen, wo ein Teil davon in gefrorener Form zurückbleibt. Dieser Teil besteht aus den notorischen Zuspätkommern, den lebenslangen Pechvögeln, die nun wie gelähmt am Ufer frieren müssen. Jede auf diese Weise ausgestoßene Gischt verwandelt sich in Sekundenstelle, "in a matter of seconds", in eine dünne Schicht aus Eis, bildet sich auf einer bereits existierenden und wird zu einer glasklaren Napoleonschnitte.

Je intensiver sich die Sonne mit dem Sinken beschäftigt, so verändert sich auch die Ansicht des Wolkenturmes, der am Horizont, zum Greifen nahe, wie eine uneinnehmbare Burg über dem Meer schwebt. Ernsthaftes Lila ist zu sehen, schwermütiges Petrolblau, bedrohliches Blutorange, und natürlich Grau: Mantelgrau, Asphaltgrau, Aschgrau, Mausgrau.

Die beiden mit Aussenthermometer versehenen Fühler des John Hancock Center messen Minusgrade, die erste Etage des vornehmen Drake Hotel erstrahlt in warmem Licht, das im Gegensatz zur Fassade des Gebäudes wie ein Kaminfeuer wirkt. Gesichtsmuskeln scheinen einzufrieren, Tränen entrinnen den Augen, obwohl niemandem zum Weinen zumute ist. Die Zwillingshäuser von Ludwig Mies van der Rohe sehen heute noch glatter aus als sonst. Wahrscheinlich war es ein solcher Tag, als Frank Lloyd Wright sie zum erstenmal sah und als "flachbrüstige Architektur" bezeichnete. Der vom Nordpol kommende Wind wirft sich jedem auch noch so kleinem Widerstand mit Inbrunst entgegen. "The hawk", wird er hier genannt, "The hawk is biting", sagen die Leute. Sie wissen, wovon sie reden.

Jetzt sieht man die Häuser von Chicago als Schatten auf dem See. Je weiter die Sonne sich senkt, desto länger werden die Schatten, desto höher wirken die Häuser, ragen sie in den See hinein, als wollten sie ihren Stempel auf die dunkle, wogende Oberfläche drücken. Science Fiction. Dieses sich unermüdlich bewegende, bedrohlich wirkende Wasser gleicht einer noch von Wissenschaftlern zu untersuchenden Masse, die soeben auf einem fremdem Planeten entdeckt wurde. Mit dem Ergebnis kann nicht vor morgen gerechnet werden, aber man hat ungute Vorahnungen.

Ein vermummtes Paar schlendert am See entlang, scheint verliebt, sie bleiben stehen und küssen sich. Ihre Gesichter wirken ausdruckslos, das kommt nicht von der Liebe sondern vom Wind. Ein Mann in einem schwarzen Mantel steht auf einer in die See hineinragenden Kaimauer. Plant er einen Selbstmord?