Mittwoch, 29. Juli 2009

Charlie Sweet Thang

Charlie war wütend. Das Kleid sah schrecklich aus. Dabei war es noch nicht einmal das Blümchenmuster was sie störte, nein, es war dieser schreckliche Spitzenrand. Ein geiles Second Hand Kleid aus den 60ern hatte es sein sollen. Stattdessen hatte Darimana ihr diese 50er Jahre Tapete gekauft. Dabei wollte Charlie doch heute abend so richtig schick aussehen. Sie zog das Kleid mit einem einzigen festen Ruck über beide Ohren und warf es auf den Boden. Sie schaute aus dem Fenster im Erker des dreistöckigen viktorianischen Hauses. Der Himmel war verhangen. Auf der Strasse lag Schnee, aber es nieselte. Sie konnte die feinen horizontalen Fäden erkennen, die sich eilig auf den Asphalt zubewegten. Wenn der Wind stärker blies, waren es sogar Vertikalen. Charlie setzte sich eine Sonnenbrille auf. Sie fand das total cool, vor allem wenn die Sonne nicht schien. Die blonde Frau von Gegenüber stand wieder hinter der Gardine, die sich ganz leicht bewegte. Der Frau schien es offenbar nichts auszumachen, entdeckt zu werden. Charlie wußte noch nichtmal wie alt sie war. In ihrer Phantasie sah sie aus wie Sharon Stone.

Charlie zog sich Jeans, Pullover und ihre dickste Winterjacke an, rückte die Sonnenbrille zurecht und verließ die Wohnung. Jetzt fielen dicke fette Schneeflocken aus den Wolken. In diesem Chicagoer Winter war es so kalt, dass selbst die hartgesottenen Eichhörnchen erfroren und wie Steine aus den Bäumen fielen. Sie schlenderte an den schönen Villen vorbei, deren Vorgärten gerade mal für einen Kirschbaum und ein kleines Beet reichten. Einen Schneemann gab es auch. An der Ecke Aldine Street und Broadway betrat sie das Café Caribou, in dem junge Schwule sassen, die wie virtuelle Klone in ihre Laptops starrten.

Sie holte sich einen Tall Mocha mit Schlagsahne drauf und balancierte ihn zu einem der Tische am künstlichen Kamin. Der knisterte zwar nicht, strahlte aber wenigstens etwas Wärme ab während im Rest des Cafés die Klimaanlage mit den Aussentemperaturen konkurrierte. Charlies Stimme hatte belegt geklungen, als sie bei dem blondierten Dürren, der wie ein Berliner Punk aussah, ihre Bestellung aufgab. So wie eine Stimme klingt, wenn man sich angeschrien, das Problem aber nicht gelöst hat. Ein Streit mit Darimana war nämlich kein Pappenstiel. Ihre Liebe, so fand Charlie, hatte zuviel Leidenschaft.

Sie hatten sich in einen Bar in Amsterdam kennengelernt. Charlie hatte sie gefragt, was denn abends so los sei in der Stadt. Und sie trafen sich am nächsten Abend wieder und redeten lange miteinander. Was Charlie blieb, war Darimanas in altmodischer Versalienschrift verfasste Visitenkarte. Eine Woche später zog Charlie nach Kalifornien. Ihren Umzug hatte sie lange vorbereitet. In ihr gab es eine unsägliche Unruhe, eine tiefe Sehnsucht nach Veränderung und Kalifornien war weit genug weg. Sie zog nach Aptos, ein verschlafenes Kaff am Pazifischen Ozean. Von ihrem Apartment konnte sie den Ozean und Palmen und wunderschöne Sonnenuntergänge sehen. Charlie schrieb an ihrem neuen Buch und erkundete die Umgebung. Sie schrieb Darimana eine Ansichtspostkarte. Bald schickten sie sich lange Briefe und Fotos. Nach einem Jahr beschlossen sie, dass Darimana auf Besuch kommen sollte. Darimana flog noch einmal zurück nach Amsterdam und zog dann zu Charlie. Ihre Beziehung war von Anfang an intensiv, erotisch, spannungsgeladen. Es gab Entladungen wie Blitz und Donner. Und Versöhnungen mit heissen Küssen.

Charlie schaute aus dem Fenster. Dort war die Haltestelle für den 126er Bus in Richtung Downtown. Sie waren schon oft mit diesem Bus gefahren. Er brauchte mindestens 40 Minuten bis zur Michigan Avenue, weil er an jedem Häuserblock anhielt. Die Fahrt war interessant, vor allem wegen der Passagiere. Alte russische Jüdinnen, oder waren es jüdische Russinnen?, die sich im Art Institute an alten Meistern begeisterten. Schwarze Nannies, die an der Chicago Avenue in den EL zur West Side umstiegen. Yuppies mit CD-Walkman in Richtung IBM oder einer anderen Softwareschmiede. Darimana und sie waren notorische Beobachter. Ihre Notationen besprachen sie immer bei einer Tasse Kaffee.

In Kalifornien hatte sich Charlie einen glänzenden auberginefarbenen Chrysler Marke New Yorker Landau gekauft. Zwar ein wenig betagt, aber sehr elegant. Wie eine Sänfte federte der Wagen über die kalifornischen Straßen, wiegte sich sanft in den Kurven und zeigte ungefragt Richtung, Außentemperatur und verbrauchte Gallonen an. Er hatte superweiche Ledersitze, eine surrende Klimaanlage und einen schnurrenden V8-Motor. Solchermaßen ausgestattet, machten Charlie und Darimana ihre Ausflüge durch Kalifornien. Einmal fuhren sie den Highway One in Richtung Norden entlang. Auf der einen Seite fiel der Blick hinunter auf steile Klippen, gegen die sich ein aufgeregtes Meer warf, auf der anderen Seite auf grüne Hügel, deren höchste Erhebungen an manchen Stellen von einer kleinen Tannenfamilie bestanden war, die aussah, als hätte sie ihren Wald um sich herum verloren.

Charlie erinnerte sich vor allem an den Nebel. Die Nebelschwaden, die sich wie riesige Badehandtücher über die Küste legen, waren voller blauer Löcher in verschiedensten Größen. Wie von einem Kind aus einer Zeitung ausgerissen. Manche waren rundlich, andere in die Länge gezogen, wieder andere hatten gezackte Ränder. Der Nebel hatte die Angewohnheit, seine Form ständig zu verändern. Vom Seewind getrieben, wie von Furien gehetzt, atemlos. Flinken Fußes lief er an den Neonlichtern von McDonalds vorbei, machte sich wie ein Dieb über Straßenasphalt und Privatwege davon — seine nichtendenwollende nebulöse Verwandtschaft hinter sich herziehend. Überhaupt: Floh er vor etwas oder wurde er von etwas gejagt? Darimana und sie staunten schweigend und hielten erst bei Henry Millers Museum an. Miller war der Ansicht, nur die amerikanischen Staaten mit eckigen Formen waren die wirklich interessanten. Warum lebte er dann in Kalifornien und nicht in Kansas?

In Kalifornien lernten sich Darimana und Charlie kennen. Diese Zeit war geprägt vom Ausloten ihrer Toleranzschwellen, vom Auschecken gemeinsamer Vorlieben und gegenseitiger Abneigungen. Während Charlie an ihrem Buch schrieb, las Darimana Gedichte und fotografierte. Am Seabright Beach spielten sie voller Lebensfreude Frisbee, mit weitausholenden Bewegungen, der Weite Kalifornien, der Länge ihres Atems. Manchmal schwammen Robben und Delfine vorbei. Sie machten Tai Chi und meditierten, schlitterten mit nackten Füßen durch die heranschwappenden Wellen und lasen Zeitung im Strandcafé. Dort arbeitete Cherokee.

Im Safeway Supermarkt, wo die Angestellten nach der täglichen Befindlichkeit fragen und einen schönen Tag wünschen mußten, kauften sie ihre Lebensmittel ein. Wenn sie in romantischer Stimmung waren, kauften sie Brennholz für den Kamin und eine Flasche Rotwein.

Die Sonnenuntergänge in Aptos waren von glühender Dramatik. Tiefrot, blutorange, Während Charlie kochte, bereitete Darimana das Kaminfeuer vor. Die Abende waren besinnlich, sie sprachen über die Tiefe der Farben und sahen Videos von Woody Allen und Stanley Kubrick.

Sie dachten viel über die USA nach, dieses Land ohne Tiefe, in dem sie jetzt beide lebten. Charlie war froh, dass sie ihre Beobachtungen mit jemandem teilen konnte. Darimana hatte eine kritische Sicht auf ihr Umfeld. Ihren Untersuchungen blieb nicht viel verborgen. Manchmal kamen sie sich wie Detektivinnen vor.


Nun lebten sie in Chicago. Es war bitterkalt. Um sich aufzuwärmen gingen sie immer in das Eckcafe. Wenn Darimana und sie das Cafe betraten, waren sie den Anwesenden keinen aufmerksamen Blick wert. Langsam gewöhnten sie sich daran. Sie teilten dieses Schicksal mit einem älteren Herrn, dem es unmöglich war, mit einem Gegenüber ein Gespräch anzufangen. Der beliebte Treff der Schwulen von "Boystown", wie das Viertel Lakeview von ihnen selbst mit einer Mischung aus Trotz und Stolz genannt wurde. In dieser homogenen Masse, deren besondere Merkmale auf sich selbst gerichtete Lust und gähnende Langeweile sind, hatten Aussenseiter keinen Platz. Sie schauten nur dann auf, wenn jemand das Cafe betrat. Doch an Charlie hatte niemand Interesse.


Einer ihrer Lieblingsspaziergänge in Chicago führte am Lake Shore Drive antlang. Am Ufer des Lake Michigan, die Skyline Chicagos immer in Sicht. Die Tiefe von Chicago wird deutlich in den Strassenschluchten. Je weiter man sich von Chicago entfernt, sich dann der Stadt wieder annähert. Tiefe und Distanz, Nähe und Distanz. Man kann eine Sonnenbrille aufsetzen um Varianten dieser Wahrnehmung zu erzeugen. Im Zwielicht, in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und dem endgültigen Eintreffen von Dunkelheit, Lichter leuchten, dann funkeln dann glänzen. Es kann viel passieren in dieser beinahe räumlichen Zone, denn wenn sie beginnt, wird Zeit zum begleitenden Faktor reduziert. Dinge werden greif- und begreifbar, es ist viel zu tun, in vielerlei Hinsicht, aber man muss sich beeilen damit. Denn Zwielicht ist endlicher als jede andere auf natürliche Art verstreichende Zeit.